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Wissenschaften

Illusion Fortschritt - Die vielfältigen Wege der Evolution

Autor*in:Steven Jay Gould
Verlag:S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 1998, 287 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:12.01.2017

Die meisten Menschen sind der Meinung, dass die Evolution einen zielgerichteten Fortschritt hin zu komplexeren Lebewesen darstellt und dass der Mensch den vorläufigen Höhepunkt dabei bildet. Der amerikanische Zoologe und Geologe Stephen J. Gould (1941-2002) möchte zeigen, dass die Geschichte des Lebens insgesamt nicht vom Fortschritt gekennzeichnet ist, und dass es noch nicht einmal eine gerichtete Evolutionskraft gibt.

Sein Hauptargument dafür ist die überwältigende Vorherrschaft der Bakterien und der Einzeller, die es schon vor einigen Milliarden Jahren gab, und mit denen es immer noch im Umfang ihres Vorhandenseins, ihrer Verbreitung kein anderes Lebewesen aufnehmen kann. Gould hält die These von der aufsteigenden Evolution für ein Vorurteil, allein schon aus dem simplen Grund, weil die uralten Bakterien nicht ausgestorben sind und wir von der Zahl der Bakterien her gesehen eigentlich ein bakterieller Planet sind.

Heute leben Bakterien zu Milliarden in jedem Gramm Erde und zu Millionen in jedem Speicheltropfen. Wir nehmen sie mit jedem Atemzug und mit jedem Bissen auf. Die große Mehrzahl sind keine Krankheitserreger, sondern gutartig oder bedeutungslos. Die Zahl der Colibakterien in einem einzigen Darm ist größer als die Gesamtzahl aller Menschen, die heute auf der Erde leben. Und das Colibakterium ist nur eines von vielen Bakterienarten in der Darmflora eines jeden Menschen. Sie leben einfach überall, selbst in Vulkanen und in tiefsten Meeresschichten, und sie leben immer noch, während der Mensch erst vor wenigen Millionen Jahren auf den Plan trat.

Will man Trends in der Evolution feststellen, muss man die gesamte Leistung der Evolution betrachten, also nicht aufsteigend von den Bakterien über die Vielzeller zu den Fischen, Landtieren, Vögeln, Wirbeltieren bis hin zum Menschen, sondern immer alle vorhandenen Lebewesen von ihrem Beginn vor ein paar Milliarden Jahren bis heute berücksichtigen. Biologisch gesehen zeigt das Leben keinen allgemeinen Impuls in Richtung auf Komplexität, sondern fügt nur gelegentlich ein Exemplar von etwas höherer Komplexität in einem freien anatomischen Raum hinzu, während es die Form der Bakterien seit über drei Milliarden Jahren unverändert beibehält.

Einige wenige Geschöpfe haben größere Komplexität entwickelt, und zwar in der einzigen Richtung, die möglich war, nämlich von den Bakterien und Einzellern in Richtung auf Mehrzeller. Je höher die Komplexität eines Lebewesens, desto singulärer ist diese Erscheinung. Es gibt fortschreitende Komplexität, doch je höher diese ist, desto seltener ist sie auch. Mit ziemlicher Sicherheit ist der Mensch bei aller Pracht und Errungenschaften nur ein kurzer kosmischer Zufall.

Es ist schlicht abwegig, Spezies als minderwertig zu betrachten oder an den Pranger zu stellen, nur weil sie ausgestorben sind. Oder umgekehrt gesagt: Es ist kein Verdienst und kein Ausdruck einer besonderen Qualifikation, als Spezies über Millionen von Jahren überlebt zu haben. Denn das Überleben beruht auf Zufällen der Umweltveränderungen, für die kein einziges Individuum und keine einzige Spezies verantwortlich gemacht werden kann. Spezies starben nicht aus, weil sie irgendwie minderwertiger wurden oder zu blöd, um sich anzupassen, sondern weil ihr Umfeld und ihre Umwelt sich veränderten und den bislang dominanten Arten das Leben schwer machte, ohne dass eine Degeneration vorliegen muss.

Darwin lehnte den Begriff „Evolution“ anfangs ab, weil seine Theorie keine Vorstellung vom Fortschritt als vorhersagbare Folge der Veränderung umfasste. Das Wort Evolution kommt in der ersten Auflage der Entstehung der Arten nicht vor, aber er verwendete es 1871 in der Abstammung des Menschen. Er mochte es nicht und übernahm es nur, weil es sich allgemein durchgesetzt hatte. Er warnte davor, im Zusammenhang mit dem Wort „Evolution“ von „höher“ oder „niedriger“ zu sprechen.
Nun hatte aber Darwin einen bemerkenswerten Satz auf der letzten Seite seiner Entstehung der Arten geschrieben. Er lautet: „Da die natürliche Zuchtwahl durch und für das Gute jedes Wesens wirkt, werden alle körperlichen und geistigen Begabungen der Vollkommenheit zustreben” (Gould, S. 173). Wie konnte er einen solchen Satz schreiben, nachdem er es abgelehnt hatte, die natürliche Selektion mit einem Fortschrittsdogma zu verknüpfen? Gould sieht in diesem Satz ein Zugeständnis Darwins an die englische Gesellschaft, die sich als Welt-Seemacht auf der Höhe ihrer Kraft und an der Spitze der Geschichte wähnte. Das britische Empire hatte alle anderen nationalen Konkurrenten aus dem Feld geschlagen. War das nicht der Beweis, die „Fittesten“ zu sein? Tatsächlich war das nur nationale Hybris.

Bei diesen Überlegungen bleibt immer noch offen, was überhaupt Komplexität bedeutet. Im Sinne von Spezialisierung muss festgestellt werden, dass Bakterien unspezialisiert sind, das heißt, sie vertragen ein breites Spektrum von Lebensräumen und Klimabedingungen – im Gegensatz zum Pfau mit seinem unpraktisch langen Schwanz oder dem Koalabären, der nur ganz bestimmte Eukalyptusblätter fressen kann. Die unspezialisierten Formen haben in der Regel Hunderte von Millionen Jahren gelebt. Der Mensch stellt unter den spezialisierten und komplexen Lebewesen einen Extremwert dar. Er gleicht seine unpraktische Spezialisierung durch ein sehr flexibles Organ aus, welches ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet – dem Gehirn. Würde man den Gang der Evolution zurückdrehen und von vorn beginnen, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass sich noch einmal so etwas Kurioses wie der Mensch entwickelt, bei praktisch Null.

Ursachen und Folgen in der Evolutionsentwicklung werden oft durcheinander geworfen. Darwins Kernthese besagte, dass die natürliche Selektion zu immer besserer Anpassung an eine sich wandelnde örtliche Umwelt führt. Tatsächlich aber sind viele Eigenschaften, die für ihren Besitzer lebensnotwendig werden, auch ohne besonderen Grund oder zumindest auf indirektem Wege entstanden, also als unbeabsichtigte Folgeerscheinungen von Mutationen oder Nebeneffekten von anderen Entwicklungen, die dann aufgrund nicht vorhergesehener Umweltveränderungen plötzlich Bedeutung gewannen. Die natürliche Selektion bringt Varianten hervor, von denen die allermeisten verschwinden und nur diejenigen Seitenlinien übrigbleiben, die zufällig besser zur sich wandelnde lokale Umwelt passen oder bei ebenfalls zufälligen Umweltkatastrophen überleben.

Der Wandel der menschlichen Kultur dagegen ist ein völlig anderer Vorgang. Er läuft nach anderen Prinzipien ab, und diese Prinzipien erlauben durchaus einen gewollten Trend zu einem zu Recht so genannten Fortschritt. Es war kaum zu vermeiden, unter diesem Gesichtspunkt die technischen und sozialen Errungenschaften des Menschen als „kulturelle Evolution“ zu bezeichnen. Beide Phänomene, die biologische und die kulturelle Evolution, ähneln sich in mancherlei Hinsicht, aber nach Goulds fester Meinung überwiegen die Unterschiede, und sie wiegen schwerer als die Ähnlichkeiten.

Der Unterschied zwischen Darwin’scher Evolution und kulturellem Wandel liegt in den gewaltigen Möglichkeiten, die die Kultur bietet und die der Natur fehlen. Die Kultur ist zu schnellen Veränderungen fähig. Der Mensch als Kulturwesen hat in einem unfassbar kurzen geologischen Augenblick die Erdoberfläche so verändert, wie kein natürlicher Evolutionsvorgang es jemals bewerkstelligen könnte. Dennoch ist die kulturelle Entwicklung nicht völlig unabhängig von evolutionären Prinzipien. Auch die Kulturgeschichte kennt abgestorbene Seitenzweige und Rückschritte. Ferner kennt auch die menschliche Geschichte den Zufall. Der menschliche Geist kann sich sogar dazu entschließen, Entwicklungslinien nicht weiter zu verfolgen, vielleicht aufgrund von Geldmangel oder aufgrund ideologischer Vorbehalte. Ferner ist zu bedenken, dass technischer Fortschritt nicht zu einer gefühlsmäßigen oder moralischen Verbesserung führt, er kann ebenso gut in die Zerstörung und in einer partiellen Ausrottung enden.