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Rezensionen
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Wissenschaften

Das Ende der Großen - Zurück zum menschlichen Maß

Autor*in:Leopold Kohr
Verlag:Otto Müller Verlag, Salzburg - Wien 1957/2017, 342 Seiten
Rezensent*in:Gerald Mackenthun
Datum:08.10.2023

In seinem 1957 auf Englisch erschienenen Buch Das Ende der Großen - Zurück zum menschlichen Maß plädiert der österreichische Philosoph und Nationalökonom Leopold Kohr für eine Rückkehr zum menschlichen Maß in Politik und Wirtschaft. Er kritisiert die zunehmende Größe und Komplexität von Staaten, Unternehmen und Organisationen, die seiner Meinung nach zu Ineffizienz, Ungerechtigkeit und Gewalt führen. Dem setzt er die Idee kleiner politischer Einheiten und Nationen entgegen, die seines Erachtens die einzige Garantie für den Erhalt des Friedens bieten.

Große Einheiten, so Kohr, seien zum Scheitern verurteilt, da sie nicht in der Lage seien, die Bedürfnisse und Interessen der Menschen zu befriedigen. In diesem Buch, das 2017 als Band 1 der Kohr-Werkausgabe neu aufgelegt wurde, sagt er die Auflösung der Großmächte voraus. Mit dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens zeigt er, dass die Vorteile der Größe ab einem bestimmten Punkt geringer werden als die Nachteile. So sei es in einem großen Staat schwieriger, eine effiziente Verwaltung zu gewährleisten oder die Bedürfnisse der Bevölkerung zu berücksichtigen. Kohr belegt seine These mit zahlreichen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart. Große Staaten und Organisationen endeten oft in Kriegen, Revolutionen und Unruhen. Er verweist auf die ökologischen Schäden, die durch große Industrieunternehmen verursacht werden.

Als Lösung für diese Probleme schlägt Kohr eine Dezentralisierung und die Rückkehr zu kleineren Einheiten vor. Überschaubarere Einheiten in Politik und Wirtschaft seien effizienter, gerechter und friedlicher. In kleineren Einheiten hätten die Bürger mehr Einfluss und Kontrolle über ihre Angelegenheiten. Small is beautiful würde zu mehr Lebensqualität und Nachhaltigkeit führen. Kohrs Schüler und Freund Fritz Schumacher verhalf dem Slogan in den 70er Jahren zu großer Popularität.

Kohr wurde 1909 in Österreich geboren. 1938 emigrierte er nach Amerika, wo er ab 1943 an verschiedenen Universitäten lehrte. Nach seiner Pensionierung ließ er sich in Wales (Großbritannien) nieder. 1983 erhielt er den sogenannten Alternativen Nobelpreis. Er starb 1994 in England. Das Buch hatte er bereits 1950 fertiggestellt. Es dauerte einige Jahre, bis er einen Verleger fand. In der englischen Erstausgabe hieß das Buch The Breakdown of Nations. Immer wieder betonte er, dass der Zusammenbruch der Großmächte unvermeidlich sei. Alles Große sei krankhaft und dem Untergang geweiht. Große Staaten sind in seiner Metapher Krebsgeschwüre. Nur gleich große Staaten könnten friedlich miteinander kooperieren. Europa sollte in 40 Kleinstaaten mit jeweils etwa 8 Millionen Einwohnern aufgeteilt werden.

Damit schrieb er gegen den Zeitgeist an. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte die Meinung vor, dass Kooperation und eine immer stärkere Integration der Nationen den Frieden sichern könnten. Kohrs Sichtweise war durchaus originell, kaum jemand machte sich Gedanken über die Auswirkungen der Größe von Nationen. Sein Plädoyer für eine Rückkehr zum menschlichen Maß ist ein provokanter und visionärer Ansatz, der gängige Vorstellungen von Politik und Wirtschaft in Frage stellt. Das Buch wurde mit Interesse aufgenommen und von der Umweltbewegung rezipiert, aber nicht wirklich ernst genommen.

Einige Kritiker hielten Kohrs Thesen für zu radikal und unrealistisch. Sie argumentierten, dass potente Staaten und Organisationen notwendig seien, um die Herausforderungen der modernen Welt zu bewältigen. Andere Kritiker hielten Kohrs Argumente für grundsätzlich richtig, aber zu allgemein. Sie forderten ihn auf, konkrete Vorschläge zur Umsetzung seiner Ideen zu machen. Schließlich sollten sich Großmächte freiwillig auflösen. Ihm selbst war klar, dass seine Vorschläge nie umgesetzt werden würden. Das elfte Kapitel dieses Buches trägt die Überschrift „Wird es geschehen?“ Es besteht aus einem einzigen Wort: „Nein“.

Ist das Buch heute, im Zeitalter der Globalisierung und der globalen Klimaerwärmung, „aktueller denn je“, wie die Herausgeber Ewald Hiebl und Günther Witzany meinen? Die Welt scheint derzeit vor anderen Herausforderungen zu stehen als der Zerschlagung oder Auflösung großer Staaten in kleine Einheiten. Großmachtstreben setzt seiner Meinung nach mit naturgesetzlicher Notwendigkeit immer dann ein, wenn die kritische Größe in der Entwicklung einer Nation überschritten wird. Als Beispiel kann er freilich nur Nazi-Deutschland anführen. Hitlers Weg zur Macht war einzigartig, keine andere Nation ging diesen Weg. Der aggressive Nationalismus Japans oder Italiens hatte andere Wurzeln. Eine universelle Gesetzmäßigkeit ist nicht erkennbar. Große Staatsgebilde wie die USA, Brasilien, Indien oder China bestehen fort. Kleinstaaten wie Bosnien und Serbien sind sich spinnefeind und bieten offensichtlich keine Garantie für Frieden. Die deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts sind alle verschwunden. Sie waren in ständige Fehden verstrickt. 

Kohrs Analyse wird von der Geschichte nicht gestützt. Die friedensstiftende Wirkung von Kooperationen und Koalitionen blendet der Autor aus. Es gibt Dutzende anderer Gründe, Krieg zu führen, als die Größe und damit die Potenz von Nationen. Der Zusammenbruch von staatlichen Gebilden war selten friedlich, vielmehr meist eine Katastrophe für die Bevölkerung. Und welche Bevölkerungszahl wäre noch überschaubar? Lebt nicht jeder, auch in den größten Staaten, zuerst in seiner Familie, in seiner Gemeinde, in seiner Stadt?

Kohrs Credo der Dezentralisierung blieb ein Solitär in der wissenschaftlichen und politischen Landschaft. Seine Analyse mit dem Fokus auf die vermeintlich nicht menschengemäße Größe von Großmächten blieb zu einseitig, um Wirkung zu entfalten. Als Denkanstoß mag das Buch intellektuell anregend sein, aber gerade das Nachdenken über seine Thesen führt zu dem Schluss, dass er eine spleenige Idee verfolgte, die zu weit von der Realität entfernt war.