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Rezensionen Tiefenpsychologie
und Kulturanalyse

Tiefenpsychologie

Happier - The History of a Cultural Movement That Aspired to Transform America

Autor*in:Daniel Horowitz
Verlag:Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 429 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:03.11.2022

Das Streben nach Glück wurde in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 mit dem Recht auf Leben und Freiheit zu den Grundrechten eines jeden Bürgers gezählt. Was könnte aber mit dem Glücksbegriff gemeint sein, wenn Glück seit der griechischen Antike eher als philosophisches Paradoxon verstanden wird? Auch in der Neuzeit wurde das Phänomen als unfassbar empfunden, wie der französische Moralist Nicolas Chamfort (1741-1794) in einem Aphorismus festhielt: „Das Glück ist keine leichte Sache: es ist sehr schwer, es in uns, und unmöglich, es anderswo zu finden“ (Chamfort, zit. in: Schopenhauer 1850/1986, 373).

Trotz der Vielfalt der Meinungen zum Begriff des Glücks beschrieb der pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) drei Aspekte des echten und vermeintlichen Wohlseins: 1. Was einer ist, 2. Was einer hat und 3. Was einer vorstellt. Während das Streben nach Geld, materiellen Gütern und Status eher dem Hedonismus zugeordnet wird – der glückliche Mensch möchte seine Bedürfnisse befriedigen und lebt nach dem Lustprinzip (Freud) –, wird die Verwirklichung von Seins-Werten durch Geistigkeit, Selbstbesinnung und Besonnenheit gefördert. Wie der Philosoph erläutert, verstehen wir unter dem Sein die „Persönlichkeit im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen“ (Schopenhauer 1850/1986, 377).

In der Psychotherapie geht es hierbei um die Überwindung einer Werdenshemmungs (v. Gebsattel) und um eine gelungene Anpassung an die soziale Realität. Anders als der Hedonist, der immer nur punktuell glücklich wird, verlangt die Suche nach Glückseligkeit (Eudämonismus) einen längeren Atemzug. Heute fügen wir dem Katalog des Eudämonismus auch das Prinzip Verantwortung (Hans Jonas) hinzu. Das Glück ist für Psychotherapeuten und Psychologen ein wesentliches Forschungsgebiet; jede psychische Störung beeinträchtigt das Wohlbefinden des Menschen. Nicht nur in der Behandlung der Depressionen spielt die Sinnfrage eine zentrale Rolle, wie der Logotherapeut Viktor Frankl in seinen Schriften betonte. Zum Gesundheitsbegriff der Logotherapie gehört grundsätzlich die Suche nach Glückseligkeit. Der Patient soll sein Leben insgesamt verstehen lernen und nicht bloß die Psychogenese seiner Störung.

In der Psychotherapie und Psychologie streiten Psychotherapeuten und Wissenschaftler über ihr jeweiliges Glücksmodell. Nicht selten werden neue Begriffe in die Debatte geworfen wie z.B. Resilienz, Achtsamkeit, Ressourcen usw., ohne nach dem Strukturzusammenhang zu fragen, in den solche Begriffe eingebettet sind. In Fachkreisen versuchen die Experten zwischen drei möglichen Forschungsansätzen der Psychologie bzw. Psychotherapie zu unterscheiden. Aus den Reihen ihrer Kritiker wurde die klassische Psychoanalyse als zu langwierig und zu wenig wissenschaftlich gesehen; die als wissenschaftlich geltende Verhaltenstherapie bot aber wegen ihres Mangels an Tiefe und ihres manipulativen Ansatzes keine geeignete Alternative zu den tiefenpsychologisch fundierten Behandlungsmethoden. Einen dritten Weg beschritt die humanistische Psychologie (Goldstein, Rogers, Maslow, May), die am gesunden Menschen ansetzte. Hierbei wurde die Psychopathologie in die Schranken gewiesen; der Mensch sei nicht primär als krank zu bezeichnen.

Die positive Psychologie, welche sich an die humanistische Psychologie anschloss, wurde vom akademischen Psychologen Martin Seligman entwickelt, der in den USA in der Depressionsforschung durch sein Buch Helplessness: On Depression, Development and Death (1975) bekannt wurde. Erlernte Hilflosigkeit bezieht sich auf das Verhalten von Versuchstieren, die auf Schmerzreize mit Apathie und Totstell-Reflex reagieren. Selbst wenn sie nicht mehr gequält werden, leiden sie an einer ängstlichen Erwartung, die sie nicht überwinden können.

Eine zentrale Frage in der Depressionsforschung betrifft die Resistenz von seelisch robusten Menschen, die den Ereignissen und Situationen resolut begegnen, welche der Depressive nicht bewältigen kann. Seligman begann folglich über das Verhalten von gesunden Menschen nachzudenken und beschäftigte sich zunehmend mit positiver Psychologie. In seiner Ansprache anlässlich seiner Inauguration als President of the American Psychological Association wies er 1998 auf die Bedeutung positiver individueller Eigenschaften wie Optimismus, Mut, Arbeitsethos, Zukunftsorientierung, interpersonelle Fähigkeiten, das Empfinden von Freude, Einsicht und soziale Verantwortung hin. Psychologen hätten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehr mit psychischer Krankheit befasst und sollten sich nun dem gesunden Individuum und der florierenden Gemeinschaft widmen (Horowitz 2018, 15). Der neue Vitalismus des einstigen Depressionsforschers beseelte sein nächstes Buch Learned Optimism: How to Change Your Mind and Your Life (1990).

Daniel Horowitz betrachtet die Entwicklung der akademischen positiven Psychologie und Glücksforschung mit Skepsis. Gerade befremdlich wirkt auf ihn die endlose Flut von Ratgebern zu diversen Aspekten des Wohl-Seins. Sein Buch richtet sich nicht direkt an praktizierende Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, weil der Autor die Wechselbeziehung zwischen Forschung und Neoliberalismus in den USA erforschen wollte. Er fragt sich zum Beispiel, warum bestimmte Forschungsrichtungen gefördert werden, die keine Sozialkritik beinhalten. Die Überzeugung des Autors, dass das Streben nach Glück, wie es die Glücksindustrie empfiehlt, unter Umständen zum Egoismus führt und von den Missständen in der Gesellschaft ablenkt, zieht sich wie ein roter Faden durch die Monographie des Kulturhistorikers.

Literatur:
Schopenhauer, A.: Aphorismen zur Lebensweisheit. In: Sämtliche Werke Bd. IV, Suhrkamp, Stuttgart 1986, 373-592.