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Philosophie

Menschheit und Mutter Erde – Die Geschichte der großen Zivilisationen

Autor*in:Arnold Toynbee
Verlag:Ullstein, Berlin 1998, 527 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:26.09.2022

„Die Differenzierung des Lebens in verschiedene Arten hat sowohl einen Existenzkampf zwischen einigen Spezies als auch Zusammenarbeit zwischen anderen mit sich gebracht. Welche – wenn überhaupt eine – dieser zwei gegensätzlichen Konstellationen ist das dominierende Gesetz der Natur? In den Beziehungen nichtbewusster Arten untereinander ist weder die Zusammenarbeit noch der Kampf ein Akt freier Wahl; doch den Menschen steht die Entscheidung frei, und sie ist bei diesen an die menschliche Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse gebunden. Was ist die Quelle dieser ethischen Urteile, die offenbar zur menschlichen Natur gehörend und der Natur der nichtmenschlichen Arten fremd sind? … Der Mensch empfindet, als sei er der Mittelpunkt des Weltalls, denn sein eigenes Bewusstsein ist für ihn der Punkt, von dem aus er das kosmische geistige und stoffliche Panorama überblickt. Seine Ichbezogenheit macht es ihm zum natürlichen Impuls, das übrige Universum seinen Zwecken zu unterwerfen. Zur gleichen Zeit ist er sich bewusst, dass er selber, weit entfernt von dem wahren Mittelpunkt des Universums, nichtig und kurzlebig ist; und sein Gewissen sagt ihm, dass er moralisch wie auch geistig einen falschen Weg geht, wenn er seiner Ichbezogenheit nachgibt“ (Toynbee 1998, 17).

Der Historiker Arnold Toynbee (1889-1975) lehrte Geschichte an der Oxford University in England. Er kritisierte den Eurozentrismus vieler seiner Kollegen, die ihre Forschung auf ein überschaubares Spezialgebiet beschränkten. Toynbee war ein Universalgelehrter, dessen Hauptwerk A Study of History (1934-61) „die Geschichte aller bekannten Zivilisationen, die noch existieren oder die schon ausgestorben sind“, umfasst. Bekannt ist seine Auffassung, dass der Aufstieg und Fall einer Zivilisation nach einer Dynamik von Herausforderung und Antwort (challenge and response) erfolgt. In späteren Jahren betonte er die Rolle der Spiritualität in der Entwicklung und dem Fortleben von Zivilisationen. Diese Einstellung wurde von seinen Fachkollegen und -kolleginnen eher in Frage gestellt. Dennoch ist sein Buch Menschheit und Mutter Erde (im englischen Original 1976) angesichts der Gefahren, denen sich der Mensch auf der Erde ausgesetzt fühlt, auch heute noch lesenswert.

Toynbee beschreibt den Menschen nicht als Opfer der technischen Entwicklungen, sondern ähnlich wie Arthur Koestler als „Irrläufer der Evolution“, der sich an die Biosphäre (Teilhard de Chardin) von Erdkruste, Wasser und Luft nicht ausreichend anpassen konnte. Der Historiker bezweifelt, dass andere Planeten im Kosmos menschliches Leben beherbergen könnten. Die Biosphäre, schreibt Toynbee, ist „die einzig mögliche Wohnstätte für alle uns bekannten Lebewesen, die Menschen einbegriffen“ (Toynbee 1998, 19). Bei aller Bewunderung der kooperativen Leistung von Wissenschaftlern und Technikern, welche im Jahre 1969 die erste Mondlandung möglich machten, ist der Mond, so konstatiert der Historiker, für den Menschen und andere Lebewesen nicht bewohnbar. Der Mensch hat aufgrund von Aggressivität und Ängstlichkeit in den Erneuerungskreislauf der Biosphäre stark eingegriffen, ohne die negativen Folgen seiner Aktivitäten zu erahnen, glaubt Toynbee:

„Die Biosphäre besteht und erhält sich vermittels eines feinen, sich selbst regelnden und selbst erhaltenden Gleichgewichts der Kräfte; ihre Bestandteile sind voneinander abhängig, und der Mensch ist ebenso wie alles andere von seiner Beziehung zu der übrigen Biosphäre abhängig“ (Toynbee 1998, 20f).

Toynbee beschreibt sehr anschaulich, wie der Mensch ursprünglich zum Raubtier wurde, um im Kampf ums Dasein zu bestehen. Warum das menschliche Bewusstsein nicht früher auf das Prinzip „Bescheidung“ kam, die der Autor als äußerst notwendige Tugend empfiehlt, scheint sich aber seiner Kenntnisse zu entziehen. Nachdem der Historiker die Naturkatastrophe, die auf den Menschen zukommt, aus biologischer Sicht erklärt hat, widmet er sich in weiteren 78 Kapiteln den kulturellen Besonderheiten der Kulturen, die er in seinem Hauptwerk A Study of History dargestellt hat. Auffallend hierbei ist seine Präferenz für die frühen asiatischen und fernöstlichen Kulturen. Vergeblich wird der Leser im Inhaltverzeichnis nach den Philosophen und Philosophinnen der europäischen Aufklärung suchen. Vom Philosophen G.W.F. Hegel (1770-1831) erfahren wir in einem kurzen Absatz lediglich, dass er den Prozess der Entwicklung des Geistes beschrieben habe (Toynbee 1998, 563).

Die australische Historikerin Marnie Hughes-Warrington (geboren 1970) widmet in Fifty Key Thinkers on History (2000) nicht nur Toynbee, sondern auch dem Historiker Hegel ein Kapitel. In einem Gedanken aus der Philosophie des Rechts kritisiert Hegel die Philosophen seiner Zeit, die eher historisch arbeiteten und bezüglich der Gegenwart und Zukunft der Disziplin erkenntnisarm erschienen. Der Gedanke passt auch gut auf Toynbee, der die Vorzeit beredt schildert, während seine Ausführungen zum ökologischen Problem des modernen Menschen asthenisch (kraftlos) wirken. Hughes-Warrington zitiert Hegel:

„When Philosophy paints grey on grey, then is a form of life grown old, and with grey on grey it does not allow itself to rejuvenate it, but only to know it; the Owl of Minerva begins its flight at the falling of the dusk“ (Elements of the Philosophy of Right, pp. 12-13). Übersetzt: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts).

Literatur:

Hughes-Warrington, M.: Fifty Key Thinkers on History. Routledge, London and New York, 2000.
Internetquelle:
http://de. wikipedia-org/wiki/ Grundlinien der Philosophie des Rechts, abgerufen am 26.09.2022.