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Rezensionen
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Philosophie

Krieg und Affekt

Autor*in:Judith Butler
Verlag:Diaphanes, Zürich - Berlin 2009, 112 Seiten
Rezensent*in:John Burns
Datum:07.10.2023

Judith Butler, geb. 1956 in Cleveland/Ohio, lehrt seit 1994 Rhetorik und vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Berkeley. Die Philosophin, die vor allem durch ihr im Jahre 1992 veröffentlichtes Buch Gender Trouble - Feminism and the Subversion of Identity  (dt. Das Unbehagen der Geschlechter) weltbekannt wurde, zählt zu den poststrukturalistischen Denkern, die im Anschluss an Nietzsche, Husserl, Heidegger, Sartre und Foucault den Begriff eines eindeutig festgelegten menschlichen Subjekts radikal in Frage stellen. Wenn wir heute überlegen, wer wir sind, müssten wir hiernach antworten: „Ich bin die Summe der sozialen Einflüsse, die seit meiner Kindheit auf mich eingewirkt haben“. In einem Vortrag, den Judith Butler am 20. Juni 2008 an der Universität Potsdam hielt, werden diese sozialen Einflüsse als Ausdruck einer Affektmanipulierung durch die öffentliche Meinung verstanden. Das Subjekt wird für Einfühlung, Weltoffenheit, Schuld und Scham im Umgang mit fremdem Leid unempfindlich. Weil wir in unserer Geschlechtlichkeit, Körperlichkeit und Handlungskompetenz stärker außen- als innengeleitet (David Riesmann) sind, werden in Krisenzeiten irrationale und aggressive politische Entscheidungen getroffen, die lediglich von einer kleinen Minderheit der Bevölkerung in Frage gestellt werden.    

Das erkenntnisleitende Interesse der Philosophin – besser gesagt ihre Empörung -  gilt in Krieg und Affekt der aus ihrer Sicht unverhältnismäßigen Reaktion der US-amerikanischen Regierung unter G.W. Bush nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York im September 2001.  Butler hätte lieber eine längere Trauerphase gesehen, ein Innehalten, ein Nachdenken über die Verletzlichkeit des Menschen unabhängig von seiner Hautfarbe und Religionszugehörigkeit. Statt der US-Bevölkerung die Tugend der Besonnenheit zu empfehlen, ging die Bush-Regierung mit ihren Militärplanern sofort in die Offensive, indem sie einen Angriff auf den Irak planten, den sie shock and awe nannten. Die Iraker sollten durch massive Bombardierungen ihrer Städte in einen Zustand von Furcht und Schrecken  versetzt werden, weil sie alle für den abscheulichen Terrorakt gegen die USA angeblich mitverantwortlich waren. 

Im Rahmen der Luftangriffe auf den Irak und der Besetzung des Landes durch US-amerikanische Truppen wurde weder auf die Menschenrechte irakischer Zivilisten noch auf die Genfer Konventionen Rücksicht genommen. Weil die Journalisten und Journalistinnen im Irak-Krieg akkreditiert (embedded) sein mussten, erreichten die Bilder über das wahre Ausmaß der Destruktivität und das grausame Vorgehen der US-amerikanischen Truppen im Irak nur langsam die Zivilbevölkerung in den USA und in anderen Ländern der Welt. Im Gefängnis Abu Ghraib wurden Gefangene gefoltert und gedemütigt. In Guantanamo, ein US-Militärstützpunkt auf Kuba, wurden Kriegsgefangene unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Einige wurden grausamen Foltermethoden unterzogen, um Schuldgeständnisse von ihnen zu erzwingen. Sehr eindrücklich demonstrieren in dem Vortrag Butlers die Gedichte, die aus Guantanamo herausgeschmuggelt wurden, wie die Einzelnen trotz ihrer hoffnungslosen Situation durch Schreiben ihre Identität zu wahren versuchten: 

Ich wurde gedemütigt, in Fesseln. Wie kann ich jetzt Verse verfassen? Wie schreiben?
Nach den Fesseln und Nächten und Leiden und Tränen,
Wie kann ich Gedichte schreiben?      

Wir werden erzogen, schreibt Judith Butler, Empathie und Mitleid für all jene zu empfinden, die uns ähnlich sind, nicht aber für Menschen, die wir als kulturell und religiös anders wahrnehmen. Unser moralisches Empfinden sollte jedoch nicht partikulär sein, sondern alle Menschen und Menschengruppen einbeziehen. Butler warnt bei ihrer These vor einem vagen Universalismus. Sie glaubt eher, dass die Ethik in der Vulnerabilität des Menschen verankert werden muss. Auch die Hegelsche Identitätsthese fließt in ihre Überlegungen zur Ethik ein. Unsere Identität kann nur in einer Beziehung zum Anderen entstehen und gefestigt werden. 

Es scheint mir, dass es sich hierbei um ein uraltes Dilemma handelt, das schon Shakespeare in Der Kaufmann von Venedig (1596-1598) zu lösen versuchte. Der mittellose, aber ansehnliche Bassanio hat sich in die hübsche Portia verliebt. Er möchte von seinem Freund Antonio 3000 Dukaten leihen, um die wohlhabende Dame von der Ernsthaftigkeit seiner Liebeswerbung zu überzeugen. Der Kaufmann Antonio verfügt aber über kein flüssiges Geld, weil er sein Kapital in Schiffe investiert hat, die in fernen Ländern mit Luxusgütern beladen werden. Erst wenn die Schiffe nach Venedig zurückkehren, verfügt er wieder über sein Vermögen. Antonio will sich seinem Freund Bassanio zuliebe die Summe von einem jüdischen Geldverleiher verschaffen, den er aber oft verspottet und gedemütigt hat. Als Bürgschaft für das Geld schlägt Shylock vor, dass er vom Körper seines Gläubigers ein Pfund Fleisch herausschneiden darf, wenn dieser ihm das Geld nicht fristgerecht zurückzahlt. Antonio willigt in das Geschäft ein. Als Shylock erfährt, dass die Schiffe Antonios im Sturm untergegangen sind (es handelt sich dabei um eine Fehlinformation), besteht er auf sein Recht, den Kaufmann zu töten. Shylock hält seinen Racheakt für gerechtfertigt, weil er als Jude von den Christen stets nur als Unmensch betrachtet wurde:

Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? …
If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? (Act  III, Scene I)
Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? …
Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?

Wir dürfen das christliche Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ nicht auf unsere unmittelbare Familie, Freunde, Geschäftspartner oder auf die eigene religiöse Gemeinde beschränken - ist die Aussage des Dramas. Barmherzigkeit, wie Portia den streitenden Parteien erklärt, ist eine universelle Tugend. Das Stück veranschaulicht in einer sehr komplexen Darstellung der Identitätsproblematik von Adel und Kaufleuten, Juden und Christen, Männern und Frauen, wie sehr uns unsere Vorurteile die Sicht auf fremde Menschen und Kulturen verstellen. Wir sind, wie Judith Butler in ihrem Vortrag ausführt, von einer spezifischen sozialen Ontologie geprägt, die im Verhältnis zur individuellen Ontologie verstanden werden muss. Der Philosoph und Soziologe G. H. Mead (1863-1931) sprach in diesem Kontext von social me und personal me

Internetquellen:
http:// www.zitate7.de/10642/wenn-ihr-uns-stecht, 29.09.2023
htpp:// de.wikipedia.org. wiki/ Der Kaufmann von Venedig, 29.09.2023