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Philosophie

Gemeinschaft und Gesellschaft 1880-1935 – Gesamtausgabe Band 2

Autor*in:Ferdinand Tönnies
Verlag:Walter de Gruyter, Berlin 2019, 950 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:06.01.2020

Ferdinand Tönnies (1855-1936) war ein Soziologe und Philosoph, der mit seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) zur Entstehung und Etablierung der Soziologie als wissenschaftliche Disziplin wesentlich beigetragen hat. Sein gesamtes akademisches Leben über verbrachte er in Kiel an der dortigen Christian-Albrecht-Universität, wobei er lange Zeit
lediglich Privatdozent gewesen war, da die preußische Kulturbürokratie seine Berufung auf eine Professur enorm verzögerte. Von 1909 bis 1933 war Tönnies Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Diese Funktion wie auch seinen Emeritus-Status an der Kieler Universität verlor er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 – Tönnies und seine Beiträge zur Soziologie und Philosophie gerieten fast völlig in Vergessenheit.

Es dauerte beinahe fünf Jahrzehnte, bis in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Kiel eine Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft gegründet und allmählich sein Nachlass wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Nach und nach erkannte man seine Originalität und seine Leistungen als Begründer der Soziologie in Deutschland, der neben Max Weber und Georg Simmel zu den maßgeblichen und prägenden Figuren der deutschsprachigen Soziologie zählt.

Aufgewachsen ist Tönnies an der Nordseeküste Schleswigs, das während seiner Kindheit noch zu Dänemark gehörte. Als Jugendlicher machte er in Husum die Bekanntschaft Theodor Storms, der ihn förderte und in ihm den zukünftigen Intellektuellen und Wissenschaftler erahnte. Schon mit sechszehn Jahren legte Tönnies seine Reifeprüfung ab und studierte daraufhin an den Universitäten Jena, Leipzig, Bonn, Kiel und Berlin Philologie und Philosophie. Nach seiner Promotion wurde er mit erst 25 Jahren in Kiel zum Privatdozenten habilitiert; als Habilitationsschrift dienten erste Ausarbeitungen seines späteren Hauptwerks Gemeinschaft und Gesellschaft.

In der Soziologie und Ethnologie gibt es diverse Definitionen der beiden Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, für welche die Ausführungen von Tönnies (und anderen Soziologen) maßgeblich geworden sind. Gemeinschaften (z.B. eine Dorf-Gemeinschaft oder eine Kirchen-Gemeinde) grenzen sich in der Regel von anderen Gruppen ab und weisen eine überschaubare Mitgliederzahl auf, in der jeder jeden kennt. Die Übereinstimmung bei den Weltanschauungen der Mitglieder ist einigermaßen hoch, und nicht selten handelt es sich bei Gemeinschaften um ökonomisch und sozial weitgehend autarke Gruppierungen. Gegenseitiges Vertrauen, emotionale Bindung und Homogenität sind Charakteristika von Gemeinschaften.

Im Gegensatz dazu beschrieb Tönnies die Gesellschaft als eine losere Verknüpfung von Individuen. Die Einzelnen bedienen sich der Gesellschaft, um ihre individuellen Ziele zu erreichen. Dabei kommt es in Gesellschaften (z.B. Zivilgesellschaft, bürgerliche Gesellschaft) zu bedeutend größerer Diversität und Durchlässigkeit als bei Gemeinschaften; auch die Anonymität ist bei Gesellschaften allein schon aufgrund der viel größeren Zahlen ihrer Mitglieder ein wesentliches Merkmal. Im Zuge der Aufklärung kam es immer wieder zu einer Entgegensetzung von Staat (Fürstenstaat) und Gesellschaft (Bürgertum). In der Soziologie des 21. Jahrhunderts ist der Begriff der Gesellschaft aufgrund seiner etwas unklaren Definition durchaus umstritten.

Wie sehr Tönnies und sein gesamtes Oeuvre in den letzten Jahren wieder ins Gesichtsfeld der akademisch-wissenschaftlichen Welt gerückt ist, wird an zwei Gesamtausgaben deutlich, die seit 1998 (Kieler Edition bei de Gruyter) respektive seit 2008 (Klagenfurter Edition im Profil-Verlag) realisiert werden. Der hier angezeigte Band ist der zweite einer bei de Gruyter auf insgesamt 24 Bände angelegten Gesamtausgabe, die vom Umfang wie auch von der außergewöhnlichen Solidität der Edition her als späte Rehabilitation und als Anerkennung der Bedeutung von Ferdinand Tönnies verstanden werden kann.