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Philosophie

Arendt Handbuch. Leben – Werk – Wirkung

Autor*in:Wolfgang Heuer, Bernd Heiter & Stefanie Rosenmüller (Hrsg.)
Verlag:J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2011, 407 Seiten
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:18.02.2013

Hannah Arendt wurde 1906 in Hannover-Linden als einzige Tochter assimilierter Juden geboren. In Hannahs Familie dominierte eine freiheitliche und aufgeklärte Gesinnung. Bereits als Jugendliche beschäftigte sie sich mit Kants Kritik der reinen Vernunft (1781), mit Texten Sören Kierkegaards und der Psychologie der Weltanschauungen (1919) von Karl Jaspers. Ab 1924 studierte sie in Marburg Philosophie. Dort dozierten unter anderem die bekannten Philosophen Paul Natorp (der allerdings schon im August 1924 starb), Martin Heidegger und Nicolai Hartmann. Mitte der 20er Jahre begann vor allem Heideggers Stern zu leuchten. Unter den Studenten hatte es sich herumgesprochen, dass man bei diesem Denker tiefes und originäres Philosophieren erleben und erlernen könne. So saßen etwa Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith, Gerhard Krüger, Wilhelm Szilasi und Hans Jonas regelmäßig in seinen Vorlesungen und erhofften sich derlei von ihrem Meister.

In der 18jährigen Hannah Arendt stieß eine junge Studentin zum Kreis um Heidegger, die denselben nicht nur mit ihren klugen Fragen und Kommentaren auf sich aufmerksam machte. Der Zauberer aus Meßkirch (wie Heidegger von Studenten genannt wurde) war daneben auch von den ästhetisch-weiblichen Reizen seiner Hörerin angetan, wie umgekehrt Hannah von der pathetisch-wuchtigen Art des Heideggerschen Denkens begeistert war. Nach wenigen Wochen wurde sie seine Geliebte. Weil Heidegger verheiratet, Vater von zwei Söhnen und um seinen Ruf als seriöser Denker und Hochschullehrer besorgt war, legte er großen Wert darauf, dass seine Liebschaft mit Hannah geheim blieb. Während der Semester, die Arendt in Marburg studierte, entsprach sie voll und ganz den Wünschen Heideggers nach Diskretion. Erst Jahrzehnte später wurde das Verhältnis des Herrn Professor mit seiner 17 Jahre jüngeren Studentin ruchbar, was vor allem bei Heideggers Gattin Elfride Irritationen auslöste. Die Öffentlichkeit erfuhr 1982 durch die umfassende Biographie von Elisabeth Young-Bruehl über Hannah Arendt – Leben, Werk und Zeit von ihrer Liaison. Young-Bruehl (1946-2011) war Psychoanalytikerin und hatte eine Weile an der New School for Social Research in New York bei Hannah Arendt Philosophie studiert.

Neben Heidegger gehörte in Marburg der Religionswissenschaftler Rudolf Bultmann und (kurzzeitig in Freiburg) auch Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, zu den maßgeblichen Lehrern Arendts. 1926 wechselte sie nach Heidelberg, um bei Karl Jaspers zu promovieren. Jaspers, der mit Heidegger befreundet war und mit ihm eine intensive Korrespondenz unterhielt, war ihr von ihrem Geliebten empfohlen worden. Wenn je ein Mensch sie zur Vernunft hat erziehen können, so war es Jaspers – schrieb Arendt später anerkennend über ihren Doktorvater. Ihre Promotion trug den Titel Der Liebesbegriff bei Augustin (1929).

In Heidelberg unterhielt Arendt freundschaftliche und zum Teil auch intime Kontakte mit Hans Jonas, Benno von Wiese, Friedrich Gundolf aus dem George-Kreis, Erich Neumann (einem Psychoanalytiker aus der C.G. Jung-Schule) und Kurt Blumenfeld. Letzterer machte sie mit seinerzeit aktuellen Fragen des Judentums und Zionismus vertraut. Eine emotionale Loslösung von Heidegger, der nach seiner Veröffentlichung von Sein und Zeit (1927) und der Übernahme des Philosophie-Ordinariats in Freiburg (er wurde Nachfolger seines Lehrers Edmund Husserl) nur noch selten Kontakt mit seiner Geliebten suchte, gelang ihr damals nur partiell.

Kurz nach dem Abschluss ihres Philosophiestudiums bezog Arendt zusammen mit dem jungen Journalisten Günther Stern (1902-1992) eine Wohnung zuerst in Potsdam-Babelsberg und dann in Frankfurt am Main. Beide kannten sich aus ihrer Marburger Zeit, wo Stern ebenfalls bei Heidegger Philosophie studiert hatte. Da ihre „wilde Ehe“ als anstößig galt, heirateten sie 1929; die Beziehung währte allerdings nur bis etwa 1937.

Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre beschäftigte sich Arendt ausführlich mit Fragen des Judentums sowie mit politischen und feministischen Themen. In der Figur von Rahel Varnhagen (1771-1833) war Arendt überzeugt, einige sie damals bewegende (autobiographische) Probleme abhandeln zu können. Es entstanden insgesamt elf Kapitel einer größeren Studie, die als philosophische Habilitationsschrift geplant war, aufgrund der Zeitläufte aber erst 1958 als Buch unter dem Titel Rahel Varnhagenveröffentlicht werden konnte.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten war es für Arendt keine Frage zu emigrieren. Über Tschechien, Italien und die Schweiz gelangte sie nach Paris, wo sie ihren ebenfalls exilierten Mann Günther Stern wiedertraf. Aufgrund unterschiedlicher weltanschaulicher Ansichten lebte sich das Paar zunehmend auseinander. 1936 lernte Arendt Heinrich Blücher (1899-1970) kennen, den sie nach ihrer Scheidung von Stern 1940 heiratete. Blücher hatte sich autodidaktisch derart umfängliche philosophische und kulturwissenschaftliche Kenntnisse angeeignet, dass er später als Dozent an der New School for Social Research und als Professor am Bard College in New York Philosophie unterrichten konnte.

1941 gelang Arendt zusammen mit ihrer Mutter und mit Blücher die Flucht aus dem von den Deutschen fast vollständig besetzten Frankreich in die USA. Über Marseille und Lissabon kam sie schließlich nach New York, wo sie vorerst als Autorin für diverse Publikationsorgane sowie als Lektorin den Lebensunterhalt für sich und ihre Angehörigen verdiente. Trotz großer Gefährdungen (zum Beispiel als Insassin des französischen Frauenlagers in Gurs) und Entbehrungen hat Arendt nie ihren Lebensmut und ihre Zuversicht verloren. Im Gegenteil: Mit ihrer kämpferischen und beherzten Art wirkte sie ansteckend auf ihre Umgebung, die von ihr recht eindeutige Sätze zu hören bekam: „Es ist eine Lust zu leben, auch wenn die Weltlage beschissen ist.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die wissenschaftliche und literarische Karriere Hannah Arendts. Nach und nach publizierte sie Artikel und größere Essays, die sie 1948 zu ihrer ersten Buchveröffentlichung seit 1929 (ihre Promotionsschrift) zusammenstellte. Der Titel dieses Buches lautete Was ist Existenzphilosophie? Darin setzte sie sich unter anderem mit dem Denken Martin Heideggers sowie demjenigen von Albert Camus und Karl Jaspers auseinander.

Damals nahm Arendt auch wieder Kontakte mit ihren alten Freunden und Bekannten in Europa auf. Vor allem das Schicksal von Jaspers (der aufgrund seiner Ehe mit einer jüdisch-stämmigen Frau in steter Angst gelebt hatte) und Heidegger (der sich als Opportunist und Mitläufer der Nationalsozialisten erwiesen hatte) interessierte sie sehr. Auf einer Reise in die Alte Welt besuchte sie 1949/50 ihre beiden wichtigsten Philosophie-Lehrer. Mit Jaspers stellte sich sofort wieder die altgewohnte Offenheit und Vertrautheit ein, wohingegen mit Heidegger, der zunächst sehr befangen war, das erste Mal eine Aussprache auf annähernd gleicher Augenhöhe möglich wurde. Allerdings kam es beim Abschied zu einem Eklat mit Heideggers Gattin Elfride, die inzwischen von der ehemaligen Liaison wusste und sich im Ressentiment und Antisemitismus gefiel („Die Frau … wird, solange ich lebe, bereit sein, alle Juden zu ersäufen. Sie ist leider einfach mordsdämlich.“ – urteilte Arendt über sie).

Anfang der 50er Jahre erhielten Arendt und ihr Mann endlich befristete Dozenturen an New Yorker Hochschulen und Colleges, was ihre ökonomische Situation entspannte. Wesentlich zu dieser Entwicklung hatte die Publikation Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft (1951) beigetragen, mit der Arendt schlagartig berühmt wurde. Zu Recht wird sie von Arendt-Experten als das erste Hauptwerk der Autorin bezeichnet, die bis dahin neben ihrer Dissertation nur Essays und Zeitschriftenartikel veröffentlicht hatte.

1958 erschien eine zweite schwergewichtige Veröffentlichung von Hannah Arendt mit dem Titel The Human Condition; der deutsche Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben spiegelt nur teilweise das Anliegen der Verfasserin wieder, die mit diesem Text unter anderem Anschluss an die anthropologisch relevanten Schriften von Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1927), Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928) und Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) zu finden beabsichtigte.

1961/62 wurde Arendt auf eigene Initiative mit einer delikaten Aufgabe betraut. Für die Zeitschrift The New Yorker sollte sie als Beobachterin eines Aufsehen erregenden Gerichtsprozesses gegen Adolf Eichmann nach Jerusalem reisen. In den Monaten, die Arendt in Israel dem Prozess beiwohnte, entstanden umfangreiche Aufzeichnungen und Reportagen, die sie 1963 zu dem viel und kontrovers diskutierten Buch Eichmann in Jerusalem zusammenstellte.

Zur großen Überraschung von Arendt wie auch von vielen weiteren Prozessbeobachtern erwies sich Adolf Eichmann (1906-1962) keineswegs als jener satanische oder dämonische Bösewicht, den man in ihm hätte vermuten können. Eichmann war als SS-Obersturmbannführer für die Organisation der Deportation europäischer Juden verantwortlich. Obwohl er selbst keine direkten Morddelikte beging, hatte er sich als gehorsamer, perfekter und hocheffizienter Schreibtischtäter an der Ermordung von etwa sechs Millionen jüdischen Menschen mitschuldig gemacht. Eichmann präsentierte sich in Jerusalem als Befehlsempfänger, der angeblich keine Vorstellung hatte, was er mit seinen Aktionen anstellte. In hohem Pflichtbewusstsein habe er alle ihm übertragenen Aufgaben stets erfüllt – wobei er in den sogenannten Sassen-Interviews (die dem Gericht nicht zur Verfügung standen) vor seiner Verhaftung damit geprahlt hatte, kein bloß normaler Befehlsempfänger, sondern ein Idealist gewesen zu sein.

Die Reaktionen auf Arendts Buch waren überwiegend negativ. Viele jüdische Kritiker warfen der Autorin vor, sie verharmlose mit ihrer Formulierung von der Banalität des Bösen die Täter und nehme die Opfer in ihrem Leid im Nachhinein nicht adäquat wahr. Dass Arendt mit ihrer Formel Immanuel Kants Idee eines „radikal Bösen“ in Frage stellen wollte, wurde von den meisten Lesern ebenso wenig rezipiert wie ihre Intention, einer Dämonisierung des Bösen (die aus ihm meist das Nicht-Verstehbare und damit das Nicht-Vermeidbare entstehen lässt) entgegenzuwirken.

1963 publizierte Arendt ein Buch Über die Revolution, in dem sie die großen Revolten des 18. Jahrhunderts – die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789 – miteinander verglich. Ihre Sympathie galt dabei der Amerikanischen Revolution. Sie habe sich im Gegensatz zur Französischen auf politische Zielsetzungen (Freiheit, Unabhängigkeit) beschränkt und wollte keine egalitäre, die sozialen Fragen eliminierende Gesellschaft begründen. Dementsprechend sei ihr eine Terror-Phase wie unter Robespierre erspart geblieben.

Ebenfalls politische Fragestellungen wurden von Arendt in ihrem Buch Macht und Gewalt (1970) thematisiert. Darin plädierte sie für eine Macht der Gewaltlosigkeit, wie sie exemplarisch von Mahatma Gandhi vorgelebt wurde. Des Weiteren versuchte sich die Autorin in einer strikten Gegenüberstellung von Macht (erstrebenswert) und Gewalt (abzulehnen). Erstere sei durch kommunikative, soziale und schöpferische Qualitäten gekennzeichnet, indes sich die Letztere durch Sprachlosigkeit, Distanz zu den Mitmenschen und Destruktivität auszeichne.

Das Jahr 1970 hielt für Arendt eine mächtige Erschütterung bereit: Im Oktober starb ihr langjähriger Lebensgefährte Heinrich Blücher an einem Herzinfarkt. Blücher, der nur 71 Jahre alt wurde, hatte Zeit seines Lebens mit seinem Körper Raubbau betrieben. Obwohl er Anfang der 60er Jahre eine Aneurysma-Blutung seines Gehirns nur knapp überlebt hatte, schonte er sich in den Jahren danach in keiner Weise. Hinzu kamen sein regelmäßiger Konsum von Alkohol und Nikotin sowie seine Neigung zu Affekten, deren Ausmaß jedoch von demjenigen seiner Frau noch deutlich überboten wurde.

Der Tod Blüchers war nicht der einzige mitmenschliche Verlust. Anfang 1969 war Karl Jaspers gestorben – allerdings im hohen Alter von 86 Jahren. Diese lange Lebensspanne zählte bei Jaspers doppelt, weil er seit seiner Kindheit an Bronchiektasen litt – eine Erkrankung, die oft mit einer deutlichen Verringerung der Lebenserwartung einhergeht. Nur durch rigorose Disziplin konnte der Philosoph seinem Körper ein derart hohes Lebensalter abringen. Zu seiner Abdankungsfeier sprach Arendt einige Sätze, wobei sie betonte: „Der Umgang mit den Toten – das will gelernt sein!“ Nach dem Tod ihres Gatten allerdings war sie ratlos und fragte sich und ihre Freunde wiederholt: „Wie soll ich jetzt leben?“

Arendt beantwortete diese Frage mit verstärkter Vortrags- und Lehrtätigkeit. Schon einen Tag nach der Trauerfeier übernahm sie ein Seminar an der New School, und dieser Strategie der Bewältigung von Leere und Schmerz blieb sie auch die Monate danach treu. 1973 und 1974 hielt sie die Gifford-Lectures (benannt nach dem Richter Lord Adam Gifford, der schottischen Universitäten eine hohe Summe vermacht hatte, damit diese das Studium der „natürlichen Theologie“ verbreiteten) an der Universität von Aberdeen über Das Denken und Das Wollen. Beide Vorlesungszyklen wurden postum als Buch unter dem Titel Vom Leben des Geistes (1977) publiziert.

Während ihrer zweiten Gifford-Lectures erlitt Arendt 1974 einen Herzinfarkt. Als Risikofaktoren müssen ähnlich wie bei Heinrich Blücher ihr Lebensstil (Nikotin-, Alkohol- und Affekt-Abusus, häufige und aufreibende öffentliche Auseinandersetzungen, wiederholte anstrengende Reisen, herausfordernde Liebesbeziehungen) wie auch ihre an Abenteuern reiche Biographie benannt werden. Ähnlich wie ihr Gefährte zog Arendt aus ihrem Herzinfarkt keine Konsequenzen im Sinne von Schonung oder Rückzug. Wenige Monate nach ihrer Krankheit machte sie sich zu einer erneuten Europareise auf, bei der sie wiederum Heidegger besuchte, den sie nur noch als alt und unnahbar erlebte. Nach ihrer Rückkehr in die USA feierte sie – wie es ihre Art war – im größeren Freundeskreis ihren 69. Geburtstag und starb kurze Zeit später an einem zweiten Herzinfarkt.

Das vorliegende Handbuch über Hannah Arendt aus dem Metzler-Verlag informiert ausnehmend verlässlich und umfassend über das Leben, vorrangig jedoch über das Werk dieser politischen Philosophin. Den Herausgebern ist es rundum gelungen, eine Schar von Beiträgern zu gewinnen, deren Texte über die einzelnen Publikationen und Begriffe aus dem Oeuvre Arendts nicht nur von hoher Sachkompetenz zeugen, sondern darüber hinaus ausgesprochen verständlich über ihr Denken und ihre Weltanschauung Auskunft geben.