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Kunst & Literatur

Als ich im Sterben lag

Autor*in:William Faulkner
Verlag:Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2012, 248 Seiten
Rezensent*in:Babette Kozlik-Voigt
Datum:16.08.2022

Als William Faulkner vor etwa 60 Jahren starb, war er in den USA ein bekannter und anerkannter Schriftsteller. 1950 hatte er den Literaturnobelpreis erhalten und war daher in den Nachkriegsjahren auch in Europa präsent. Ich erinnere mich, dass im Bücherregal meiner Eltern Romane von Steinbeck, Hemingway, Pearl S. Buck und eben auch von Faulkner standen. Anfang der 1960er Jahre hatte man in der Regel auf kleinen Dörfern keinen Zugang zu literarisch anspruchsvolleren Texten. Allerdings gab es in den Jahren des anbrechenden Wirtschaftswunders die Möglichkeit, Mitglied beim Bertelsmann Lesering zu werden. Das Verlags-Programm dieser Buchgemeinschaft oblag in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst der Kontrolle der Besatzungsmächte mit dem Anliegen, das Demokratie-Verständnis der Deutschen zu konsolidieren. Daher waren Romane aus den USA en vogue, und dazu gehörte eben auch William Faulkner, den ich nun nach so vielen Jahren für mich (wieder-)entdeckte.

Der 1930 veröffentlichte Roman mit dem ungewöhnlichen Titel Als ich im Sterben lag wurde von Faulkner als einer seiner besten bezeichnet. Eigentlich schreckte ich vor dem Titel zunächst irritiert zurück, um dann zu staunen und ebenso irritiert zu versuchen, die Fäden der Handlung zusammenzufügen, denn der Autor verrät uns nicht, wie hier alles mit allem zusammenhängt.

Erzählt wird ein Ereignis aus dem Leben einer armen Südstaatenfamilie. Die Mutter Addie Bundren liegt im Sterben, und es ist ihr inniger Wunsch, nach ihrem Tod im Familiengrab in Jefferson beerdigt zu werden. Dieser letzte Wille hat dramatische Folgen. Die Ausführung obliegt Anse, dem eigenwillig-starrköpfigen Witwer. Der zahnlose Alte trifft die Entscheidung zur Abfahrt nur zögerlich, obwohl er die bevorstehenden Widrigkeiten bereits voraussieht. Mit seinen vier Söhnen und der einzigen Tochter bricht er nach Tagen sengender Hitze mit dem festgezurrten Sarg in einem wackeligen Fuhrwerk auf ins 65 km entfernte Jefferson. Ein eigentümlicher Fatalismus liegt über dem Ablauf der Geschehnisse, als müsse eben alles so sein, wie es nun mal kommt. Man zieht los, wohlwissend, dass Unheilvolles auf sie wartet, denn es beginnt inzwischen unwetterartig zu regnen. „Die ersten schweren Tropfen rascheln durchs Laub und auf die Erde mit einem langen Seufzen, als seien sie von einer unerträglichen Spannung erlöst. Sie sind groß wie Schrotkugeln und warm; wie aus einer Flinte abgefeuert fegen sie mit boshaftem Zischen über die Laterne hin.“ (S.75) Und so wird der Leichenzug zu einem Wettkampf mit den Naturgewalten. Der Fluss führt inzwischen ungewöhnliches Hochwasser, das die einzige Brücke zum Einsturz gebracht hat. Solche Umstände nehmen alle hin, als sei es eine von Gott auferlegte Prüfung. Es gibt kein Aufgeben, kein Zurück; vor ihnen steht das unwiderrufliche Versprechen, die Tote auf irgendeine Weise über den Fluss zu bringen. Schließlich erreichen sie ihr Ziel nach einer wahren Höllenfahrt.

In 59 kurzen Kapiteln versetzt uns Faulkner in einen Strom von Gedanken, Phantasien, Gefühlen der Protagonisten, lässt ihre jeweilige Sicht immer wieder zu Wort kommen. Dabei wechselt er abrupt die Perspektive, springt von einer Person zur anderen, so dass man von einer monologischen Innenwelt in die andere stolpert und verstehen will, wie das alles nun zusammengehen soll. Erst nach und nach entfaltet sich eine tragikomische Geschichte, deren Fäden der Leser mühsam zu verknüpfen hat. Am Ende ordnet sich alles zu einem Ganzen, das sich zusammenfügt aus unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Akteure, ihren zwischenmenschlichen Beziehungen, heimlichen Motiven, ihrer Moral, ihren Lebenslügen, ihrer individuellen Schuld, ihren Träumen, ihrem Hass und ihrer Verzweiflung.

Da ist Addie, die tote Mutter. Faulkner lässt sie in einem ergreifenden Kapitel über ihren Lebensweg von der Lehrerin zur Farmersfrau an Anses Seite sprechen. So beginnen sich für uns vage die Strukturen der Familienzusammenhänge abzuzeichnen. „Ich erinnere mich, dass mein Vater immer sagte, der Sinn des Lebens sei, sich bereit zu machen für ein langes Totsein.“ (S.161). Jedoch entzieht sich diese energische Frau, die ihren Mann bald nicht mehr liebt, dem Totsein durch eine heimliche Liebes-Affäre mit dem Pastor. Und sie lässt uns Leser damit ahnen, dass sie sogar über ihren Tod hinaus die dominante in der Familie ist. Dann ist da der erste Sohn Cash, der sich während ihres Sterbens hingebungsvoll damit beschäftigt, für sie den Sarg zu schreinern. Wir erfahren, dass Jewel, der aus der Liaison hervorgegangene Rebell, ihr Liebling ist. Er ist es schließlich, der den Sarg bergen wird, der bei der Flussdurchquerung im Hochwasser beinahe abhandenkommt. Von Dewy Dell, der Tochter, wissen wir, dass sie sich mit dem peinigenden Geheimnis ihrer Schwangerschaft quält und hofft, unterwegs einen Arzt für die Abtreibung zu finden. Derweil achtet sie mütterlich auf Vardaman, den Jüngsten, der nicht versteht, was mit der Mutter geschehen ist. Schlussendlich ist da noch Darl, der zweitälteste Sohn; er wird am Ende als Brandstifter irre werden am Geschehen.

Am Schluss ist die Leiche endlich begraben. Die Flut hat vieles weggespült, und das Feuer hat ebenfalls vieles beseitigt. Und doch bleibt am Ende eigentlich alles, wie es immer war. Neu jedoch sind das Gebiss von Anse und die neue Frau, die der Witwer „zerknirscht und stolz“ mit nach Hause bringt.

Nach der Lektüre dieser skurrilen Familiengeschichte habe ich mich nun gefragt, was ich lohnend und bemerkenswert an Faulkners Roman finde. Zunächst erinnert die außergewöhnliche Erzähltechnik an James Joyce oder auch Proust: Der fiktive Ort der Romanhandlung ist Yoknapatawpha County; und Yoknapatawpha ist hier der Fluss, dessen „Wasser langsam durch die Ebene fließt“. So wie Faulkner diesen Strom dahintreiben lässt – plötzlich anschwellend, Hochwasser führend –, entfaltet er seine Art des Erzählens als Bewusstseinsstrom: nie linear fortlaufend, sondern schubweise neue Gedanken bildend. So gelingt es ihm, den Leser in die Gedankenwelt und in den zähen Kampf der Protagonisten hineinzuziehen: indem wir uns wie im Nebel stochernd den merkwürdigen Charakteren annähern, ihre Sprachlosigkeit in diesem Familiendrama erleidend.

Aber Faulkners distanzierter Humor hat mich auch zum Lachen gebracht. Zugleich war ich erschrocken darüber, wie im Bild dieser Südstaatenwelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon Züge aufscheinen, die sich in der unseren erst gut 50 Jahre später erkennen lassen. Ich empfand diese Menschen als einsame Individuen, die in ihrer Ziellosigkeit irgendwie im Mitgerissen-Werden Halt suchen in allem, was ihnen nur greifbar erscheint. In der Regel sind es Verlierer, arme Menschen, die ins Dasein geworfen das Leben krisenhaft erleiden, fatalistisch oder schlitzohrig die raue Wirklichkeit der sozialen Benachteiligung zu überleben suchen; diese Figuren sind „ständig bedrängt, angespannt, widersprüchlich, unbändig, in sich gespalten“, so Jay Watson, ein renommierter Faulkner-Kenner. Und er schreibt weiter: „Faulkner bringt uns das Dilemma von Menschen nahe, die mit dynamischen Transformationsprozessen und abrupten Veränderungen konfrontiert sind. Und das ist etwas, das unsere heutige Welt noch viel mehr prägt als die Welt, über die er geschrieben hat.“