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Rezensionen
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Biographien

Liebe in Zeiten des Hasses

Autor*in:Florian Illies
Verlag:S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, 432 Seiten
Rezensent*in:Matthias Voigt
Datum:27.06.2023

Wer die intellektuelle und künstlerische Bohème der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts näher kennenlernen will, sollte das neue Buch von Florian Illies erwerben. Seine 500 Seiten sind selbst für Kurzstreckenleser keine harte Kost. In kunstvoll arrangierten Szenenfolgen, oft kaum zehn Zeilen lang, macht der Autor mit den unterschiedlichsten Berühmtheiten der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen bekannt. Was wir hierbei über das Liebesleben von Konrad Adenauer bis zum Grafen von Stauffenberg, von „der Dietrich“ bis zu Leni Riefenstahl, von Adorno bis Wittgenstein und von Salvador Dali bis Ernst Richter erfahren, ist allerdings nicht immer nur erbaulich; erfreulicherweise erspart uns der Autor allzu bildhafte Details. Was Illies aus seinem riesigen Fundus an biographischem Material zu sprechenden Sittenskizzen formt, wirkt in mancher Hinsicht überaus aktuell und zeitgemäß, so dass selbst heutige Club- und Party-Besucher in Berlin nicht allzu viel Neuartiges hinzusteuern könnten.

Das Buch berichtet vom Liebes-Alltag seiner Protagonisten. Wir erfahren zum Beispiel Näheres über die polyamourösen Neigungen Jean-Paul Sartres, mit denen er seine bourgeoise Herkunft hinter sich zu lassen versuchte. Seiner Partnerin Simone de Beauvoir räumte er den hohen Rang einer „notwendigen Beziehung“ ein, was von ihr wie von ihm „radikale Aufrichtigkeit“ verlangte. Dies ging so weit, dass Sartre ihr ausführlich über die Körperbeschaffenheit seiner jeweiligen Eroberungen berichtete. Kurt Tucholsky betrieb weniger Aufwand mit seiner Gemahlin zu Hause und tischte ihr lediglich die eine oder andere Mogelei auf. Allerdings konnten hellhörige Leser bereits unmittelbar nach einer Schweden-Reise von Tucholsky ganz Entzückendes über eine Sommerliebe mit der Berliner Schönheit Lisa Matthias nachlesen, die als Lydia in Schloss Gripsholm verewigt wurde – aus seiner Liebelei ließ der Dichter Literatur werden, die uns heute noch berührt.

So manches irritiert, was Florian Illies an Indiskretionen über den Beziehungsalltag der hier vorgestellten literarischen, künstlerischen und politischen Größen des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis bringt. Bei der Lektüre ließ mich die Frage nicht los, wie denn jener mit dem Wort „Liebe“ belegte Beziehungsmodus eigentlich zu verstehen und zu bewerten ist, der uns in Illies’ Gesellschaftsbild in einer so auffälligen Gleichförmigkeit begegnet. Da jagt ein Liebesglück das nächste, um sich bald darauf abzunutzen oder nach noch raffinierteren Dosen zu verlangen. Nicht selten griffen die Protagonisten auch zu harten Drogen sowie zu massivem Alkohol-Abusus, und manche von ihnen besuchten darüber hinaus regelmäßig gewerbliche Sexual-Anbieter und -Anbieterinnen. Bei alledem meidet Florian Illies moralische Urteile und beschränkt sich auf nüchterne Kommentare, zuweilen ergänzt um das Attribut „narzisstisch“.

Einige Intellektuelle kümmerten sich in den frühen 30er Jahren zwar intensiv um literarisch-ästhetische, philosophische oder erotisch-libidinöse, zu wenig aber um politisch-gesellschaftliche Themen. So wirkt es auch heute noch eigentümlich, was Sartre aus dem Berlin des Jahres 1933 zu berichten wusste. Seine Partnerin in Rouen erfuhr in Briefen allerhand Bedeutendes über die Phänomenologie in Deutschland sowie über das Liebesleben vor Ort – über die neuen Machthaber und deren Brutalität verlor Sartre seinerzeit jedoch kein einziges Wort. Erst im Zuge des Spanischen Bürgerkriegs drei Jahre später wurden er wie auch Simone de Beauvoir politisch sensibilisiert und hellwach.

Um das Heraufziehen des Faschismus in Europa geht es in Illies Buch allenthalben. Detailreiches Material gibt uns Lesern Anschauungsunterricht darüber, wie nur wenige der Intellektuellen es mitbekamen, was die Stunde längst geschlagen hatte. Man denkt in dieser Hinsicht unwillkürlich an Christopher Clarks bekanntes Buch über die Schlafwandler – ein Buch, das über die Stimmung der Europäer vor dem Ersten Weltkrieg berichtet und in gewisser Weise aber auch die Stimmung um das Jahr 1930 in Zentraleuropa charakterisiert.

Für etliche Künstler, Dichter und Intellektuelle begann in den 30er Jahren auch im Exilland Frankreich die Suche nach sicheren Orten. Schreckliche Schicksale ereilten manche von ihnen, als die französische Vichy-Regierung dem Druck Hitlers nachgab und begann, Exilanten zu internieren. Wer nicht das Glück hatte, ein rettendes Visum zu erhalten, endete womöglich in den Fängen der Nazis; und auch jene, die schließlich Zuflucht in den USA finden konnten, wurden in Bezug auf ihre Befähigung zum Weltbürgertum oft auf eine harte Probe gestellt. Für viele war ihre private emotionale und soziale ebenso wie die gesellschaftlich-politische Welt komplett aus den Fugen geraten, und nicht wenige der Intellektuellen und Künstler der 20er Jahre hatten ihren Glauben an verlässliche Sinn- und Wertdimensionen verloren. Nach dem Ersten Weltkrieg und den wirtschaftlichen und politischen Krisen-Momenten der 20er Jahre sehnte sich ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland wie auch im übrigen Europa nach stabilen Ordnungen und energischer Führung – Sehnsüchte, die das Aufkommen des Totalitarismus enorm begünstigten. Vergebens bemühten sich damals soziale Bewegungen, Psychoanalyse, Soziologie, Künste und Neue Pädagogik darum, etwas Abhilfe in einer Lebenswelt zu schaffen, in der Verwahrlosung grassierte.

Es war nicht verwunderlich, dass sich die chaotisch anmutenden gesellschaftlichen Verhältnisse auch bei der Gestaltung von privaten und intimen Beziehungen bemerkbar machten. Wo von „Liebe“ die Rede war, gab es mitunter eher ein ritualisiertes Erobern-Müssen schöner Körper und ein Einander-Verfallen in magischer Wechselseitigkeit, bei dem der jeweilige andere zum eventuell völlig ent-emotionalisierten Genuss-Mittel wurde, das für kurze Zeit ein beiderseitiges Vergessen-Können der Weltverhältnisse um sie her ermöglichte. In den vielen unverbindlichen Liebesbeziehungen spiegelte sich bisweilen eins zu eins auch der Verlust einer umfassenderen allgemeinen Bindung an Sinn, Wert und Bedeutung wider.

Bewundernswert an dieser Krisenzeit zwischen den Weltkriegen erscheint mir die künstlerisch-philosophisch-weltanschauliche Produktivität. Offenbar setzte der Verlust an sozialer und kultureller Verbindlichkeit neben Angst und Verzweiflung kompensatorisch auch große geistige Energien frei, von der Wissenschaft und Kunst gleichermaßen profitierten. Die an keine Konventionen mehr gebundene Vitalität machte sich daneben auch in der Suche nach dem augenblicklichen Glück, nach dem momentanen und jähen Lustgewinn bemerkbar. Dabei fiel der Sexualität eine gewichtige Funktion zu, da sie neben dem Lustgewinn auch die Sehnsucht nach dem Mitmenschen zu erfüllen verspricht.

Doch eine um Emotionalität und Liebe verarmte Sexualität entlässt die Betreffenden oftmals nicht in ein Erlebnis des mitmenschlichen Du, sondern in eine Einsamkeit zu zweit. Diese Erfahrung machten nicht wenige unter den Intellektuellen und Künstlern jener Zeit – eine Erfahrung, die sich in ihren Werken ebenso niedergeschlagen hat wie in ihren Biographien. Was jene Vereinsamten seinerzeit jedoch künstlerisch oder gedanklich hervorgebracht haben, ist vollumfänglich bestaunenswert, und ich möchte diese leuchtende Seite ihrer Existenz nicht missen. Ganz offensichtlich retteten viele sich und ihre psychosoziale Existenz durch ihre schöpferische Produktivität – eine Produktivität, die neben der Vitalität vor allem auch darauf zurückzuführen war, dass diese Künstler, Dichter und Intellektuellen ein Sensorium für das Außergewöhnliche, Abgelegene, Seltsame, Schrundige, Sinnwidrige am Leben und an der Conditio humana besaßen.

Was mir an Illies beeindruckendem Gesellschaftspanorama besonders gefiel, war sein durch nichts zu irritierender Stoizismus im Hinblick auf das Dargestellte. Dieser ermöglicht es uns Lesern, in der bedrückenden Galerie menschlicher Orientierungslosigkeit der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder doch so etwas wie authentische Lebensfreude und belastbare Sinnpartikel erblicken zu können. Legt man das Buch dann irgendwann zur Seite, fragt man sich unwillkürlich, inwiefern unsere heutigen Liebesrealitäten mit denjenigen der Goldenen Zwanziger vergleichbar sind; und inwiefern sich Empfindungen der Halt- und Orientierungslosigkeit inzwischen eher noch verstärkt und nicht minimiert haben könnten.