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Ausstellungen

Van Goghs Stillleben: das Außergewöhnliche des Alltäglichen

Künstler*in:Vincent van Gogh
Ausstellung:Museum Barberini, Potsdam 2019
Rezensent*in:Gerhard Danzer
Datum:04.05.2022

Schrumpelige Kartoffeln, abgelaufene Schuhe, ein geräucherter Fisch, eine Pfeife, ein Handschuh, immerhin einige Blumensträuße, Zitronen in verschiedenen Konstellationen (in Körben, auf einer Schale), Flaschen, Tüten, Töpferware, ein Stuhl, noch ein Stuhl, eine Kaffeekanne, Orangen, Quitten, Äpfel, Sonnenblumen – die Gegenstände und Lebewesen, mit denen sich van Gogh Stillleben-malend beschäftigte, waren alles andere als spektakulär, im Grunde genommen banal und alltäglich. Die Frage sei deshalb erlaubt, was ihn an diesen Dingen und uns an seinen Stillleben derart fasziniert, dass daraus Kunstwerke von Rang entstanden, die uns heute noch in ihren Bann schlagen.

Dieser Frage ging in einer kleinen, feinen Ausstellung vom Oktober 2019 bis Anfang Februar 2020 das Museum Barberini in Potsdam nach. Zu sehen in diesem wundersamen Museum an der Alten Fahrt (einem Havel-Arm) im Zentrum der brandenburgischen Landeshauptstadt waren 27 Stillleben van Goghs, die einen repräsentativen Querschnitt durch sein diesbezügliches Oeuvre bedeuteten.

Bis zum 17. Jahrhundert kommunizierten Stillleben verschlüsselte Botschaften, die mithilfe bestimmter Symbole ausgedrückt wurden. Häufig konnte man das Vanitas-Thema sowie ein Memento mori in den jeweiligen Gemälden entdecken: verblühte Blumen, wurmstichiges Obst, abgebrannt wirkende Kerzen, ein aufgegessenes opulentes Mahl, ein verrinnendes Stundenglas, ein versteckter Totenschädel.

Während der Barockzeit wandelte sich der Mitteilungs-Charakter von Stillleben. Nicht mehr moralische oder existentielle Botschaften waren die Hauptintention der meisten Kunstmaler; vielmehr wollten und konnten sie mit ihrer Stillleben-Malerei ihr hohes künstlerisches Niveau sowie ihre Fertigkeiten unter Beweis stellen. Gegenstände, leblose Dinge täuschend echt auf einer Leinwand wiederzugeben bedeutete einen Wert an sich. Wenn dann auch noch Schönheit bis hin zum Prunk aufs Bild gezaubert wurde, galten die entsprechenden Künstler als Meister ihres Fachs sowie als Beglücker ihres Publikums. Wer es sich leisten konnte, holte sich diese kleinen, selig machenden Ästhetik-Vollkommenheiten nur zu gerne in sein eigenes Wohnzimmer oder ins Kunstkabinett.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert veränderten sich neuerlich die Stile, Inhalte und Aussagen von Stillleben. Nicht mehr Vanitas, Memento mori oder überbordender Prunk, sondern der schlichte Alltag mit seinen Gegenständen und Situationen eroberte die Leinwände der Kunstmaler. Ausschlaggebende Haupt-Initiatoren für diese neue Akzentsetzung waren Paul Cezanne (1839-1906) und Vincent van Gogh. Daneben haben etwa Georges Braque, Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker oder Pablo Picasso und Horst Janssen ihre eigene Stillleben-Handschrift entwickelt. Janssen etwa trat mit einer Reihe von Blumen-Stillleben hervor, die an den französischen Ausdruck für Stillleben, an nature morte (abgestorbene Natur) erinnern – wobei auch vielen anderen Bildern und Drucken von Horst Janssen das Moribunde und Nekrotische nicht fremd ist.

Von Paula Modersohn-Becker, die merklich von Cezanne und van Gogh beeinflusst war, gibt es ebenfalls viele Stillleben, die sich dem Alltag in seinen vielfältigen Konstellationen zuwenden: Vasen, Goldfischgläser, schlichtes Obst, noch schlichtere Mahlzeiten (trocken Brot), Feldblumen – beinahe wird man bei ihr an die eingangs vorgenommene Aufzählung jener Objekte erinnert, die für van Goghs Stillleben Modell standen.

Eine erste Herausforderung für van Gogh bestand in der Auswahl seiner Stillleben-Objekte. Vor allem in den ersten Jahren seiner Künstler-Laufbahn war er an schlichten Alltags-Dingen interessiert, die er in seiner Umgebung vorfand, und die sein eigenes Dasein wie auch dasjenige von Bauern, Arbeitern und nur wenig betuchten Leuten prägten: Kartoffeln, Vogelnester, ein Ingwertopf, Flaschen, Tüten, Töpfe, Kürbisse, Zwiebeln, Äpfel, Kohlköpfe.

Zu Beginn seiner Stillleben-Karriere lagen die Dinge und leblosen Gegenstände auf van Goghs Bildern haufenweise, aber ohne erkennbare Bezugnahme aufeinander und ohne Bewegung in Körben, auf Tischen, in Schalen. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre jedoch beginnen sich die Objekte zu regen oder fast zu tanzen – aus nature morte wird ansatzweise nature vivante (lebende Natur).

Wenn sich denn Objekte bevorzugt als Motiv für Stillleben-Gemälde eignen, so sind dies Schnittblumen. Bei ihnen handelt es sich um nature morte in einem sehr direkten und konkreten Sinne, da sie einerseits meist noch prächtig blühen und keineswegs den Eindruck von Leblosigkeit erwecken, andererseits aber mit dem Moment des Geschnitten-Werdens ihre Lebensader einbüßen und nur künstlich (Wässern, Düngen) noch für einige Tage am blühenden Scheinleben gehalten werden. Für van Gogh waren Blumen ein willkommener künstlerischer Anlass, seine Farbpalette zu erweitern. Vergleicht man die Pariser Stillleben mit denjenigen aus seiner niederländischen Periode, ist man mehr als überrascht, welche farblichen Möglichkeiten sich ihm eröffneten, und mit welcher Courage er selbst die unwahrscheinlichsten Farbkombinationen als statthaft auffasste.

Als paradigmatisch für van Goghs Blumen-Stillleben gilt etwa das Gemälde Rosen und Pfingstrosen (1886). Neben der erwähnten Dynamik und dem experimentierfreudigen Kolorit fällt der pastose Pinselstrich auf, der den Blütenkörben der Pfingstrosen ausgesprochene Fülle, ja sogar Schwere, Kompaktheit, Massivität verleiht. Noch dynamischer, expressiver gestaltete van Gogh seine Vase mit roten Gladiolen (1886) und Vase mit Blumen (1886). Der Maler nutzte die Höhe und vertikale Strebens-Richtung von Gladiolen als Hauptachse dieser Gemälde, denen er auch ungewöhnlich hohe und zugleich schmale Formate zumutete.

Van Goghs Blumenstillleben Flieder (1887) möchte ich gesondert hervorheben, weil es ihm dabei gelungen ist, die Natur – in diesem Fall einen Fliederzweig – ganz ohne Arrangement (ohne Vase oder andere dekorative Elemente) in einen imaginären Raum zu transponieren, ohne ihre Ursprünglichkeit und überbordende Lebendigkeit anzutasten. Als ob dieser Fliederzweig, soeben noch zum Busch gehörig, wie nebenbei seine Umgebung gewechselt und sich entschlossen hat, zum exquisiten Objekt eines Stilllebens zu changieren, so jählings frisch, so zart duftend und so betörend bewegt hat van Gogh den Zweig auf seine Leinwand gezaubert. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass ihm dabei auch eine exzellente Studie zum Effekt von Simultankontrastfarben gelungen ist.

Beim Thema Blumenstillleben kommt man nicht umhin, auch die Sonnenblumen-Bilder van Goghs mit zu bedenken. Sonnenblumen boten sich für van Gogh aus diversen Gründen als Objekte seiner Stillleben an: Zum einen wuchsen sie in Südfrankreich an jeder Straßenecke und waren deshalb für ihn jederzeit verfügbar; zum anderen überzeugten sie ihn mit ihrer eindeutigen Farbigkeit (Gelb) und ihren differenzierten Strukturen, sie als Gegenstand von Monochromasie-Experimenten zu begreifen, die er immer wieder einmal – zum Beispiel bei der Darstellung von Zitronen – unternommen hatte.

Monochromasie bedeutet so viel wie partielle Farbenblindheit, die aufgrund eines biologischen Mangels – die Netzhaut der Betroffenen weist genetisch bedingt nur eine und nicht drei Sorten von Zapfenzellen auf, die für die Farbwahrnehmung wesentlich sind – auftritt und dazu führt, die Welt nur als Abschattungen von beispielsweise Blautönen zu erfassen. Van Gogh hingegen fand es reizvoll, jenseits dieses biologischen Defizits die Variationsbreite etwa der Farbe Gelb ganz auszuschreiten, wozu sich die künstlerische Abbildung von Zitronen oder Sonnenblumen eignete.

Es macht den hohen Reiz vieler Stillleben van Goghs aus, dass er den banalen, alltäglichen Dingen mit seiner Kunst der Darstellung ein Gesicht und eine Geschichte zu vermitteln wusste. Eindrücklich lässt sich derlei an Gemälden zeigen, auf denen nichts Spektakuläreres denn einige Schuhe zu sehen sind. Schuhe, Stiefel, Pantoffel, Klompen (holländische Holzschuhe) als Objekte seiner nature morte wählte van Gogh seit den frühen Anfängen seines Künstler-Daseins bis in die Zeit seines Klinik-Aufenthalts hinein. Mochte anfangs sein Stillleben mit Klompen (1881) als eine Hommage an das einfache Leben der Landbevölkerung gedacht gewesen sein, waren die Bedeutungen der Schuhe-Stillleben aus der Pariser Zeit (1886/87) komplexer, schwieriger auf den Punkt zu bringen.

Ein Stillleben sei noch gesondert erwähnt, das zwei Monate vor dem Tod van Goghs entstand, und das nichts Suizidales, Thanatisches an sich hat: Blühende Kastanienzweige (Mai 1890). Ähnlich wie bei seinem Flieder-Stillleben aus Paris muss sich der Künstler einen Zweig mit satten Blütenrispen gebrochen und im Anschluss auf die Leinwand übertragen haben; noch imposanter als beim Flieder-Stillleben legte van Gogh derart viele Emotionen (z.B. Optimismus, Zuversicht, Hoffnung), Leidenschaften und Dynamik in dieses Gemälde, dass aus nature morte tatsächlich nature vivante wurde.

Alles um die Blütenrispen herum – Himmel, Tischfläche, einige Kastanienblätter – scheint in Bewegung; die Blüten aber, also das Fragile, Ephemere und Momentane des Lebens, wirken im Zentrum des Bildes eigentümlich stabil und verlässlich. Kein Memento mori wie in den vielen Stillleben der Jahrhunderte vor van Gogh, sondern ein überraschendes Carpe diem, das man von ihm kaum erwartet hätte, geht von diesem Gemälde aus; eine Aufforderung, sich dem Leben trotz all seiner Fragilität und ephemeren Augenblickshaftigkeit anzuvertrauen und hinzugeben.